Ich sitze hier zum x-ten Mal und weiß nicht, wie ich es beschreiben soll…


Tamira begegnete mir, als ich 11 Jahre alt war. Ich möchte es gerne Schicksal nennen.

Sie gehörte der Tante meiner damals besten Freundin. Ich sollte eine Reitbeteiligung auf einer französischen Traberstute bekommen, doch das Schicksal hatte andere Pläne. Wir fuhren zum Stall – es war ein kleiner privater Offenstall mit nur den beiden Stuten, in meinen Augen ein kleines Paradies. Als ich Tamira traf, war sie Fremden gegenüber recht ängstlich und mochte auch die Mutter meiner Freundin nicht. Später sollte ich auch erfahren, warum. Als wir uns das erste Mal sahen, war da eine Verbindung zwischen Tami und mir. Wir waren sofort ein Herz und eine Seele – viel mehr, als ich damals verstand.

Als die Besitzerin kam und sah, wie gut wir beide zusammenpassten, bot sie mir eine Reitbeteiligung auf Tamira an, da sie selbst aus gesundheitlichen und beruflichen Gründen keine Zeit mehr hatte und ihr die Arbeit mit Tami zu gefährlich wahr. Das war für mich viele Jahre der schönste Tag meines Lebens. Ich war ab da an jeden Tag bei Tami und verbrachte jede freie Minute mit ihr. Ich machte die Stallarbeiten, mistete ab, fütterte sie, besorgte mit meiner Mum Futter und Heu, putzte sie, oder ich saß einfach nur stundenlang da, las Bücher und schaute ihr beim Fressen zu. Ich lernte, was es heißt, eine Freundschaft mit einem Tier einzugehen. Sie achtete immer auf mich, war dort, wo ich war. Wenn ich auf der Koppel lag und las, stand sie direkt neben mir, leistete mir bei den Stallarbeiten Gesellschaft. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, wartete sie schon am Zaun auf mich, stubste mich an und verstand ohne Worte, wie es mir ging. Sie wusste vom ersten Tag an, wer ich bin, noch Jahre bevor ich es selber wusste. Sie war immer da und fing mich auf, wenn ich fiel.

Tamira trug mich in vielerlei Hinsicht mehr als „nur“ auf ihrem Rücken. Sie hatte selbst die Hölle erlebt, die wir Menschen den Tieren bereiten können, und hatte jahrelang Angst vor vielen Dingen. Aber Sie vertraute mir bedingungslos und folgte mir blind überall hin. Sie hat alles für mich getan worum ich sie bat. Ich half ihr über ihre Ängste hin weg und sie mir über meine. Sie war mein fehlendes Teil. Tamira hatte am Anfang große Angst vor fast jedem Menschen. Kein Wunder, hatte sie doch Narben am Hals, die wohl von Zigaretten stammten, Narben am Bauch von Sporen und einen offenen Schädelbruch an der Stirn vom Tritt eines anderen Pferdes. Ihre Angst vor Menschen legte sich erst im Laufe der Zeit, da ich ihr immer wieder neue liebe Menschen vorstellte. Wenn sie wirklich mal Jemanden nicht mochte, wusste ich, dass dieser Mensch Seiten an sich hatte, die uns nicht guttun würden. Ich konnte ihrem Urteil blind vertrauen. Jeden Tag habe ich bei ihr verbracht – nach der Schule ging es zu ihr bis abends, wenn ich nach Hause musste. Wir sind stundenlang zusammen unterwegs gewesen. Wenn wir ausritten, haben wir oft irgendwo Halt gemacht. Sie durfte Grasen und ich saß einfach nur da und habe ihr zugesehen oder manchmal ein Buch gelesen. Erst wenn die Sonne langsam unterging, machten wir uns auf den Heimweg. An anderen Tagen ging ich mit ihr spazieren oder sogar einkaufen. Einmal gingen wir zum lokalen Supermarkt. Ich band sie vor dem Laden an, ohne zu bedenken, dass sie Knoten öffnen konnte. Die Durchsage, der Besitzer des Pferdes möge es bitte aus der Gemüseabteilung abholen, werde ich nie vergessen. Sie wollte mir eigentlich nur folgen, sah aber auf dem Weg die Möhren…

Abseits meiner Zeit mit Tami war mein Leben eine ziemliche Hölle, um es kurz zu fassen, aber Sie machte mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Sie trug mich durch all die schwierigen Zeiten. Zwei Jahre vergingen und wir erlebten viel und verarbeiten zusammen unsere Erlebnisse. Ihre Besitzerin wurde wie meine zweite Mutter.

Und dann kam eines Abends der Anruf: Entweder Du übernimmst Tamira oder
wir müssen sie an eine Reitschule oder den Schlachter verkaufen.

Das hätte sie zwar nie getan, aber sie kannte die Einstellung meiner Eltern, die ein eigenes Pferd für mich strikt ablehnten. Meine Welt blieb stehen, denn ein eigenes Pferd würden sie mir nie erlauben. Meine Eltern erzählten mir an jenem Abend, dass sie das Elternhaus meiner Mutter kaufen wollen, weil meine Oma es nicht mehr allein instandhalten konnte und in eine Stadtwohnung ziehen wollte. Dieses Haus war für mich wie ein zweites Zuhause. Ich erzählte meinen Eltern, dass wir Tamira übernehmen müssten oder sie würde zum Schlachter gehen. Erwartungsgemäß sagte mein Vater „Nein“. Durch den Kauf des Hauses könnten wir uns kein eigenes Pferd leisten, und überhaupt würde ich kein eigenes Pferd bekommen. Meine Welt brach in jenem Augenblick zusammen. Ich stürmte in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und weinte die ganze Nacht, bis ich irgendwann erschöpft einschlief.

Meine Mum weckte mich am nächsten Morgen mit den wundervollsten Worten meines Lebens: „Rate mal, wer ein eigenes Pferd bekommt?“.

Wir fuhren noch am gleichen Nachmittag zur Besitzerin und unterschrieben den Kaufvertrag zum symbolischen Preis von einem Euro. Direkt danach fuhr ich zu Tamira und versprach ihr, dass uns nichts und niemand jemals wieder trennen könnte und dass wir den Rest unseres Lebens zusammenbleiben würden. Ich versprach ihr, alles in meiner Macht Stehende zu tun, damit es ihr gut geht und ihr nichts und niemand jemals mehr schaden würde. Ich schwöre, sie verstand genau, was ich meinte.

Ein paar Tage später gab es Probleme im Stall, wo Tamira stand. Wir holten sie dort ab und brachten sie in einen kleinen Stall in unserem Wohnort. Die neue Stallbesitzerin war zwar etwas komisch, aber als Kind war mir das egal. Ich verbrachte noch mehr Zeit mit Tami als zuvor, allerdings nicht im Stall, weil dort noch fremde Pferde waren und Tami wieder Angst bekam. Wir hofften, das würde sich schnell legen und sie würde lernen, dass ihr die anderen Pferde nichts tun, aber das funktionierte nicht. Sie hatte einfach Angst, sobald die anderen Pferde in Reichweite waren, so dass wir noch mehr Zeit im Gelände verbrachten. Bald hatten wir einen schönen Ort im Wald gefunden, wo sie Grasen konnte und ich einen schönen Baumstamm zum Sitzen hatte.

Wir verbrachten dort viele Stunden und Tage. Wenn wir nicht dort waren, ritten wir durch die Gegend und erkundeten jede Ecke des Waldes. Wir fanden Fuchsbauten und beobachteten Jungtiere beim Aufwachsen. Wir erlebten die Natur auf eine Art und Weise, wie ich sie ohne Tami niemals kennengelernt hätte. Sie lehrte mich mehr als jede Schule das je gekonnt hätte. Ich lernte, dass auch Wildtiere ihre Angst vor uns verlieren und uns akzeptieren, wenn wir nur ruhig genug waren und lange genug in der Natur verweilten. Die Rehe an einer Wildtierfutterstelle gewöhnten sich schnell an uns und wir konnten uns ihnen nähern. Wenn wir nicht die Natur erkundeten, ritten wir zu meiner zweiten Mum zwei Dörfer weiter und besuchten sie. Tami konnte dort Grasen und bekam Wasser, während wir redeten. Ich sah dort sogar ein Pferd im Haus! Wenn die Jungs da waren, unternahmen wir zusammen Ausflüge mit Tami. Wir erlebten so unglaublich viel zusammen, dass man unmöglich alles aufschreiben kann. Tami lehrte mich, was wahre Freiheit ist, was es heißt, auf einem Pferderücken ganz ohne Sattel und Zaumzeug über die Wiesen zu fliegen, den Wind und die Natur zu spüren. Was es heißt wirklich zu Vertrauen, wirklich frei zu sein! Sie gab mir mehr, als ich je in Worte fassen kann, und bedeutete mir so viel mehr, als ich jemals erklären könnte. Sie hat mich auf eine Art und Weise verändert, mir die Welt gezeigt und auf ihre Weise erklärt, die ich nicht beschreiben kann. Ich wünschte, dass jeder Mensch diese Erfahrung machen könnte.

Von diesem Stall zogen wir um, als die Besitzerin Öffnungszeiten einführte, zu denen ich entweder in der Schule war oder zuhause sein musste. Tamira konnte ihre Angst vor den fremden Pferden dort eh nicht überwinden. Der neue Stall lag 4 km weiter. Ich fuhr fast jeden Tag nach der Schule mit dem Bus dorthin und verbrachte meine Zeit weiterhin mit Tamira. Da wir uns nicht auf der Koppel aufhalten durften, blieben wir entweder in ihrer Box oder wir waren wieder im Gelände unterwegs. Je älter ich wurde, umso weiter reichten unsere Streifzüge. Wir wurden dann auch von meinem besten Freund mit dem BMX begleitet. Bei Wind und Wetter streifte er mit uns querfeld. Wir erkundeten die Gegend und legten dabei auch schon mal Strecken von 30 km und mehr am Tag zurück. Wir nahmen uns Picknick mit und kamen erst um 22 Uhr wieder am Stall an. Es war die schönste Zeit meines Lebens und ich lernte, dass auch menschliche Begleitung etwas Tolles sein kann. Häufig fanden wir die schönsten Ecken der Gegend, indem wir Tami die Richtung aussuchen ließen. In einem kleinen Dorf in unsere Gegend fanden wir eines Tages eine Straußenfarm. Die komischen großen Vögel brachten selbst meine sonst zwar sehr temperamentvolle, aber immer verlässliche Tamira aus ihrer gewohnten Ruhe im Gelände. Es war das erste und vorletzte Mal, wo sie mir durchging: Einer dieser komischen Vögel war ja noch erträglich, aber als dann der Rest über die Hügelkuppe kam, nahm sie Reißaus und stürmte auf direktem Weg über den Graben und das Feld bis zum nächsten Dorf. Dort wartete sie dann brav, bis mein Freund sie eingeholt hatte. Rinder mit ihren Hörnern fand sie ebenfalls gruselig. Da wurde dann zwar etwas seitwärts getänzelt, aber immer passte sie auf, dass ich ja nicht herunterfalle. Sobald ich nur minimal falsch auf ihrem Rücken saß, stand sie sofort still. Egal was ihr Angst machte – es war ihr immer wichtig, das ich nicht falle.

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